Wenn der Schulbesuch zum Risiko wird
Von Nicolas
Ein weiterer «School Run» stand auf dem Tagesplan. Seit knapp drei Monaten leisteten wir bei vier bis sechs Schulen in der Umgebung von Bethlehem mehrmals die Woche sogenannte «protective presence». Die palästinensischen Lehrpersonen baten uns explizit darum, möglichst häufig auf dem Schulweg und vor den Schulen aufzukreuzen. Zu oft wurden Schulen und deren Umgebung Schauplätze von Gewalt zwischen palästinensischen Kindern und der Israelischen Armee (IDF), Personenkontrollen und Verhaftungen. Die internationale Präsenz von EAPPI soll u.a. die Hemmschwelle, dass es zu solchen Vorfällen kommt, erhöhen. Leider ist dies nicht immer der Fall.
Aufgaben im Einsatz in Palästina/ISrael:
Als Teil des Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI) vom Ökumenischen Rat der Kirchen: Schutzbegleitung von Bäuerinnen*Bauern sowie von Schulkindern, Checkpoint-Monitoring, Beobachten von alltäglichen Menschenrechtsverletzungen, Zusammenarbeit und Austausch mit lokalen Friedensorganisationen; Dokumentation, Berichterstattung und Sensibilisierungsarbeit«Make your presence felt»
Um 07:00 Uhr fuhren wir mit unserem palästinensischen Fahrer zur Primar- und Sekundarschule in Tuq’u und wurden wie so oft, nicht nur von freundlichen palästinensischen Lehrer*innen und Schüler*innen, sondern auch vom IDF empfangen. In einer Selbstverständlichkeit hatten sie ihren Jeep neben den Eingang zur Primarschule parkiert. Weit und breit keine Israelischen Siedler*innen, die es zu beschützen gäbe. Und dennoch gibt es Gründe, warum sie fast täglich vor palästinensischen Schulen patrouillieren. Ihre Devise lautet «Make your presence felt». Die Palästinenser*innen sollen sich nicht nur physisch, sondern auch psychisch tagtäglich besetzt fühlen. Ein Gefühl, dass man bereits als kleines Kind in der West Bank bestens kennt und nicht abschütteln kann.
Und so werden unzählige verängstigte palästinensische Primarschüler*innen bereits auf dem Schulweg mit der israelischen Besatzung konfrontiert, indem sie früh morgens an ebenfalls jungen und schwerbewaffneten Soldat*innen mit ihren Militär-Jeeps vorbeigehen müssen. Viele ihrer Bekannten und Verwandten wurden bereits auf genau diesem Schulweg oder auf dem Pausenhof verhaftet und sahen diesen Jeep schon von innen. Oft wird ihnen vorgeworfen, Steine geworfen zu haben. Nach ein paar Tagen in Haft werden sie in der Regel gegen eine Kaution von mehreren hundert Franken wieder freigelassen. Verfahrensrechte geniessen die Kinder nur wenig, so ist es gemäss israelischem Militärrecht bspw. keinem Anwalt erlaubt, bei der ersten Einvernahme des Kindes anwesend zu sein.
Langsam waren die Schüler*innen nicht mehr irgendwelche palästinensische Kinder für mich, sondern bekannte Gesichter, auf deren Wiedersehen ich mich freute und die mich mit einem Lächeln, netten Gesten und vielen High-Fives begrüssten. Umso mehr litt ich mit ihnen mit, wenn ich von dem anwesenden Lehrpersonal über ergangene Verhaftungen unterrichtet wurde. Die Woche zuvor waren es deren drei gewesen. Die Gründe dafür waren unbekannt. Auch über deren Aufenthaltsort wusste man nichts. Ein weiteres Mal wiesen wir das Lehrpersonal und Familienangehörige auf die Organisation «Defence for children international» (DCI) hin, welche in solchen Angelegenheiten kostenlos juristische Unterstützung anbietet. Die Kontaktdaten hatten sie bereits von uns erhalten. Nach einem kurzen Volleyballspiel machten wir uns wieder auf den Weg.
Gewalttätiger Zusammenstoss
Nachmittags – auf dem Weg zur Schule in Al-Khader – gerieten wir in einen gewalttätigen Zusammenstoss zwischen palästinensischen Schülern und dem IDF. Ca. 200 Meter entfernt von der Schule trafen wir auf der einen Seite auf Schüler und auf der anderen Seite auf zwei IDF-Soldaten, die sich gegenseitig gestisch und verbal provozierten. Das Gesicht mit Kufiya’s umhüllt, nahmen die Schüler ein paar Steine vom Boden auf und warfen diese in die Richtung der beiden Soldaten. Letztere amüsierten sich aus sicherer Distanz darüber und winkten den Kindern zu, sie sollen bloss näherkommen – gleichzeitig zielten sie mit ihren Waffen auf die herannahenden Schüler.
Die Situation drohte zu eskalieren. Keine zwei Minuten später sahen wir dutzende Kinder und Jugendliche in zwei Seitenstrassen rennen. Zwei Militärjeeps rasten mit hohem Tempo in unsere Richtung, verfolgten die Kinder auf den Strassen und zündeten dabei Irritationskörper. Zu Fuss sicherten ein paar Soldat*innen die Umgebung und drangen in ein paar Wohnhäuser ein. Aus den Häusern flüchteten Kinder rennend von den Soldat*innen und dem lauten Knallen der Irritationskörper davon. Wir fuhren im Taxi so unverdächtig wie möglich am Militärjeep vorbei und sahen wie IDF-Soldaten gerade einen Jungen verhafteten und ihn in den Wagen verfrachteten. Plötzlich schoss ein Soldat eine Art Rauchbombe in unsere Richtung, welche auf dem Dach eines völlig unbeteiligten vorbeifahrenden Autos landete. Wir waren nur 5 Meter daneben. Die Situation wurde zu brenzlig und wir verliessen die Szenerie.
Möglichkeiten und Grenzen der Menschenrechtsbeobachtung
Oftmals können wir die Eskalation und Menschenrechtsverletzungen mit unserer alleiniger Präsenz nicht verhindern. So sind wir in diesen Situationen jeweils stark an das Prinzip der Nichteinmischung gebunden. Aber wir können beobachten, darüber berichten und Solidarität zeigen. So gehen wir die Familien besuchen, deren Kinder verhaftet wurden. Wir hören zu und zeigen ihnen, dass sie nicht alleine sind. Wenn immer möglich, agieren wir als Vermittler*innen und vernetzen die Betroffenen mit lokalen Organisationen, die konkrete Unterstützung leisten können. Unsere Berichterstattungen lesen wir täglich in ein System ein, welches auch internationalen Organisationen wie der UNO oder dem IKRK zur Verfügung steht. Zudem empfangen wir internationale Delegationen, berichten über die Lage vor Ort und leisten überall auf der Welt Sensibilisierungsarbeit. Die Welt soll erfahren, welche Auswirkungen die israelische Besatzung auf das alltägliche Leben der Palästinenser*innen hat.
Wenige Tage später gingen wir zum letzten Mal in die Primarschule, um uns zu verabschieden. In zwei Tagen werden bereits neue Menschenrechtsbegleiter*innen vor den Schulen «protective presence» leisten. Wir warteten bis die Kinder ihren morgendlichen Appell (Singen der Nationalhymne, Gymnastikbewegungen und Lesungen aus dem Koran) hinter sich hatten, standen neben der Eingangstüre und verteilten High-Fives an die ungefähr 200-250 jungen Schüler*innen die an uns vorbeigingen. Ein wunderschöner Abschied. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich die unzähligen School Runs, die Schüler- und Lehrer*innen am meisten vermissen würde. Wir tranken noch eine letzte Tasse Tee zusammen, bevor wir uns wieder auf den Weg nach Hause begingen.