Hinter der Mauer – Gefängnisansicht von innen

Hinter der Mauer – Gefängnisansicht von innen

Von Pia Caduff. Dili, Timor-Leste

Von den 1.3 Millionen Timores:innen leben zurzeit 627 in den Gefängnissen von Becora, Gleno und Suai, darunter 17 Frauen. Von den 627 Inhaftierten, befinden sich 95 Menschen in Untersuchungshaft. Die Hälfte der Gefangenen wurde wegen Sexualdelikten verurteilt, weitere 30% wegen Mordes (Stand 18. Januar 2024)[1]. Wir konnten die Strafanstalten im Rahmen des Monitoring-Programmes von HAK Ende April ein erstes Mal besuchen. Eine zweite Besuchsrunde hat soeben begonnen und wird in der dritten Juliwoche beendet sein.

Die Gebäude stammen zum grössten Teil aus der indonesischen Besatzungszeit und wurden schon damals als Haftanstalten genutzt. Das timoresische Strafvollzugsystem entstand jedoch erst nach Ende der Besatzung mit UN-Hilfe.

Das Gefängnis in Becora, einem Stadtteil von Dili, ist das grösste und mit 1.7 Personen pro verfügbaren Platz auch die Anstalt mit der höchsten Überbelegung. Das führt unter anderem dazu, dass Räumlichkeiten, die der Beschäftigung und Freizeitgestaltung dienen sollten, wie zum Beispiel die Bibliothek, zweckentfremdet und zu Zellen umgenutzt werden müssen.

In Becora sind in der Regel nur Männer untergebracht. Sollte eine Frau aus verschiedenen Gründen hier inhaftiert sein, wird ihr ein Raum in einem administrativen Gebäude zugeteilt. Die männlichen jugendlichen Straftäter (18 bis 21 Jahre alt bei Verurteilung) befinden sind ebenfalls in einem separaten Zellen Block in Becora. Verurteile Jugendliche werden von der Strafanstalt weiterhin administrativ als solche geführt, auch wenn der betroffene Mensch inzwischen das Erwachsenenalter erreicht hat. Dies erschwert eine Interpretation der Statistiken. Laut timoresischem Strafrecht können Jugendliche unter 17 Jahren nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden. Weil in Timor-Leste kein Jugendstrafrecht in Kraft ist, werden, gemäss Auskunft des Ombudsmanns, straffällige Jugendlichen unter 17 Jahren nicht für ihre Taten belangt. Auch könnten die Jugendlichen bei einer Verurteilung nirgendwo untergebracht werden. Eine Jugenderziehungsanstalt ist schon länger in Planung, deren Realisierung ist aber nicht absehbar.

Pia bei der Registrierung vor dem Eintritt ins Gefängnis Becora. Foto PWS, 28.Juni 2024

Ein Gefängnisbesuch mit HAK läuft eigentlich immer nach dem gleichen Schema ab: Wir müssen uns registrieren und werden vom Gefängnisdirektor zu einem Gespräch eingeladen. Danach erhalten die HAK-Mitarbeitenden das aktuelle Register der Häftlinge und wählen, welche sie am Nachmittag interviewen möchten. Darauf folgt ein Gefängnisrundgang, wobei der Direktor entscheidet, welche Bereiche besichtigt werden dürfen. Fotografieren ist nicht gestattet. Nach dem Mittagessen, das ausserhalb des Gefängnisses eingenommen wird, folgen die Interviews, die das HAK-Team mittels eines standardisierten Fragebogens durchführt.

In Becora erklärt uns der Direktor Julio Ximenes anhand eines Modells der Gefängnisanlage bereits bestehende und geplante Bereiche. Foto PWS, 24. April 2024

Auf dem Rundgang können wir nur das Krankenzimmer und die Küche besuchen, jedoch keine Zellen oder sanitären Einrichtungen. Im Krankenzimmer gibt uns der verantwortliche Angestellte (Krankenpfleger) Auskunft und wir können die gesamte Ausstattung, inklusive der Apotheke, «unter die Lupe nehmen». Das Krankenzimmer weist eine minimale Ausrüstung aus, die Medikamente, die gerade den Grundbedarf decken, sind trocken, aber nicht kühl gelagert. Ein Arzt kommt bei Bedarf, Notfälle müssen ins Krankenhaus eingewiesen werden.

Auch die Küche stammt noch aus der indonesischen Besatzungszeit und ist schwer verrusst, da auf offener Flamme gekocht wird. Die Decke wurde zum Teil entfernt, um die Luftzirkulation zu verbessern. In den Tiefkühltruhen lagern Fleisch und Fisch ohne jegliche Verpackung, dafür mit ausgedehntem Gefrierbrand. In der Küche hat es auch Matratzen, die darauf hinweisen, dass hier Menschen nicht nur arbeiten, sondern auch schlafen. Die Insassen erhalten drei Mahlzeiten pro Tag, nach einem für alle drei Haftanstalten zentral geplanten Menüplan. Geliefert werden die Lebensmittel von einer einzigen Firma in Dili. Da Becora am nächsten liegt, wird diese Anstalt auch am besten beliefert.

Gefängnis-Transporter vor dem Gefängnis in Gleno. Immer wieder kommt es vor, dass Transporte wegen Treibstoffmangels nicht durchgeführt werden können. Foto: Pia Caduff/PWS, 26. April 2024

In Gleno, eine gute Autostunde von Dili entfernt, sind neben Männern und Jugendlichen auch Frauen inhaftiert und die Überbelegung war zur Zeit unseres Besuches minimal. Im Gegensatz zu Becora können wir in Gleno das gesamte Gelände und alle Gebäude besichtigen. Der grosse Stolz sollte eigentlich der neue, von der UN finanzierte Frauentrakt sein, der vor weniger als einem Jahr eingeweiht wurde. Hier sind nicht acht bis zehn Personen pro Zelle untergebracht, sondern zwei bis vier, mit «eigener Nasszelle», d.h. eine Toilette, ohne jeglichen Schutz der Privatsphäre, und eine Dusche. Von den acht Nasszellen sind allerdings drei ausser Betrieb. Sitzgelegenheiten zum Esstisch fehlen zum Teil ganz oder sind beschädigt. Die Decke ist teilweise eingebrochen.

Als wir die Zellen-Blöcke besichtigen, wird gerade das Mittagessen verteilt: Reis, etwas Gemüse und Hühnerfleisch, das eindeutig verdorben riecht. Der Gefängnisdirektor berichtet über ungenügende und qualitative schlechte Lebensmittellieferungen. In den Interviews am Nachmittag berichten junge männliche Gefangene über knappe Rationen. Auf dem Gelände wird etwas Gemüse angebaut, das die Lieferungen ergänzt.

Gruppenfoto vor dem Eingang zum Gefängnis in Suai, im Südwesten von Timor-Leste. Foto: HAK, 30. April 2024.

Um nach Suai ins dritte Gefängnis des Landes zu kommen, müssen wir uns bereits am Vortag auf den Weg machen. Obwohl nur 170 km von Dili entfernt, dauert die Fahrt sechs bis sieben Stunden, da Bergen überwunden werden müssen und die Strasse in der Regenzeit zum Teil schwer beschädigt und schlecht befahrbar wurde. Das erschwert natürlich nicht nur unsere Reise, sondern auch die Lebensmittellieferungen aus Dili.

In Suai ist der Direktor auch sehr grosszügig und zeigt uns nicht nur «jede Ecke» der Anstalt, sondern auch die Unterkünfte des Personals. In Suai wird ebenfalls Gemüse angebaut, was dringend nötig ist, denn die Lieferungen aus Dili kommen nur zum Teil an und das Gemüse ist oft bereits verdorben. Der Direktor berichtet, dass die Lieferungen auch schon eine ganze Woche lang ausgefallen seien und es nur noch Reis und das selbst gezogene Gemüse gegeben hätte. Wie in Gleno ist auch das Gefängnis in Suai zwar voll, aber nicht signifikant überbelegt. Während der Regenzeit werden die Schlafplätze in den Zellen regelmässig durchnässt und das ganze Gefängnis musste angeblich schon einmal wegen Überflutung auf den kleinen lokalen Flugplatz evakuiert werden. Toilettenartikel werden, wie in den beiden anderen Gefängnissen seit Monaten nicht mehr geliefert, da sich die Regierung nicht um die Ausschreibung für deren Beschaffung kümmert. Die Uniformen des Personals «fallen auseinander» und werden zum Teil von Häftlingen geflickt, die eine der beiden vorhandenen Nähmaschinen bedienen können. Die Personalunterkünfte, ebenfalls aus der indonesischen Besatzungszeit stammend, mussten vom Personal selbst auf eigene Kosten in Stand gesetzt werden.

Besichtigung der Personalunterkünfte im Gefängnis in Suai. Foto PWS, 30. April 2024

Die Mängelliste im Strafvollzug ist lang und betrifft nicht nur die Infrastruktur: Viele der Inhaftierten sehen ihre Pflichtverteidiger:innen erst im Gerichtssaal und kennen oft nicht einmal deren Namen. Einen privaten Rechtsbeistand können sich nur die wenigsten leisten. Obwohl ein Gefängnisreglement existiert, ist es schlecht zugänglich und die Handhabung der Besuchszeiten und Telefonate nach Hause obliegt oft allein dem Personal. Auch wenn Besuche wöchentlich möglich wären, ist der oft beschwerliche Weg für viele Familien zu weit. Die Beschäftigungsmöglichkeiten sind sehr beschränkt und scheitern entweder an fehlendem Material oder an der unzureichenden Wartung der Infrastruktur. Weiterbildungsmöglichkeiten, speziell für Jugendliche, sind sehr dünn gesät. Allein in Gleno findet regelmässig ein Alphabetisierungskurs statt. Längere Gefängnisaufenthalte als nötig kommen nicht selten vor: Teilweise braucht es im Heimatdorf erst ein Schlichtungsverfahren, bevor eine Rückkehr möglich ist, was Zeit beansprucht. 

Der von HAK verwendete, standardisierte Fragebogen ist stark auf formale Aspekte ausgerichtet. Die HAK-Mitarbeitenden halten sich strikt daran und es wird zwar ausgiebig nach Zugang zu Pflichtverteidigung und Kenntnisstand der inhaftierten Person zum Verfahren gefragt, aber weniger oder gar nicht nach anderen Problemen, wie z.B. Hierarchien unter den Gefangenen oder ob Privilegien erteilt oder entzogen werden. HAK befragt bei jedem Besuch andere Insassen:innen, so dass zu einzelnen Personen kaum das Vertrauen aufgebaut werden kann, das notwendig wäre, um heiklere Probleme anzusprechen. Ebenso wenig regt HAK Untersuchungen an, wenn in Interviews Missstände wie Gewaltanwendung durch das Personal erwähnt werden; es wird alles aufgeschrieben und vielleicht dem Ombudsmann gemeldet oder an der alle drei Monate stattfindenden Sitzung des Gefängnisnetzwerkes vorgebracht.

Während nur gelegentlich über Gewalt im Gefängnis selbst berichtet wird, soll es doch regelmässig zu unangemessener Gewaltanwendung seitens der Polizei bei Verhaftungen und Erstbefragungen auf den Polizeiposten kommen. Obwohl das Personal in den Anstalten unterbesetzt ist, kommt es angeblich sehr selten zu Fluchtversuchen. Eine auf Menschenrechte spezialisierte Juristin meinte dazu: «Im Strafvollzug erhalten die Menschen dreimal pro Tag zu essen. Das ist oft mehr als es in ihrem Dorf gibt.»

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[1] Kondisaun Direitus Umanus Prizaun Becora, Gleno no Suai. Resultadu Monitorizaun HAK iha tinan 2023-2024

Aussenansicht des Zaunes des Gefängnisses Becora in Dili. Foto PWS/Pia Caduff, 24. April 2024