Die wiederhergestellte Unabhängigkeit feiert Geburtstag
Von Angela Escher. Dili, Timor-Leste
Kizomba-Musikklänge strömen aus den grossen Boxen, die auf beiden Seiten der Bühne aufgebaut sind. Ein Dutzend Paare bewegen sich vor der Bühne zu den rhythmischen Klängen. Links und rechts der tanzenden Paare sitzen Menschen im Schatten, beobachten die Tanzenden oder unterhalten sich. Sobald die Klänge verstummen, folgt Musik mit schnellerem Rhythmus. Das Publikum jubelt, springt auf und stürmt auf den sonnigen Tanzplatz. Über zweihundert Gefangene, ein paar ihrer Familienangehörigen und einige Gefängniswärter:innen tanzen gemeinsam eine Macarena-ähnliche Tanzperformance. Alle scheinen den Tanz zu kennen und sich prächtig zu amüsieren.
Wir sind im Gefängnis Bekora, dem grössten der drei Gefängnisse Osttimors, das an der Stadtgrenze zu Dili, der Hauptstadt, liegt. Über 400 Gefangene sitzen hier ihre Strafe ab, ausgelegt ist es für 250. Die Mehrheit der Gefangenen – über 300 – sind wegen sexuellen Übergriffen oder Vergewaltigung angeklagt und ungefähr 60 wegen Mordes. Rund 70 der Gefangenen sind noch in Untersuchungshaft.
«Der 20. Mai ist unser Unabhängigkeitstag. Den feiern wir und möchten, dass auch die Gefangenen an diesem Tag etwas Spezielles erleben dürfen. Sie sollen diesen Tag auch feiern dürfen», erklärt mir Sabino Mendonça im Taxi auf der Hinfahrt zum Gefängnis. Sabino arbeitet bei HAK als Koordinator Bildung und Publikation. Er ist unter anderem für das Lobbying der Gefängnisbeobachtungen gegenüber dem Parlament und der Regierung verantwortlich. In regelmässigen Abständen besucht HAK die drei Gefängnisse, spricht mit den Gefängnisdirektoren und einzelnen Wärter:innen und interviewt Insassen. Die Herausforderungen in den Gefängnissen sind gross. In Bekora sind die Besuchsrechte intransparent geregelt. Es gibt keine Überwachungskameras in den Blöcken, wodurch unklar bleibt, was sich nachts in den Zellen abspielt. Die Küche und die Lagerung der Lebensmittel sind bedenklich. Die Jugendlichen erhalten weder Ausbildungs- noch Freizeitbeschäftigungen gemäss der internationalen Standards. Diese kritischen Beobachtungen teilt HAK mit der Regierung und den Parlamentsabgeordneten, tauscht sich mit anderen ebenfalls im Gefängnis tätigen Organisationen aus und informiert die Bevölkerung über die beobachteten Zustände. Seit Anfang April begleitet Peace Watch Switzerland HAK insbesondere bei dieser Arbeit.
Seit Jahren unterstützt HAK auch die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag in den Gefängnissen. Heute fahren wir zu viert ins Gefängnis Bekora, um daran teilzunehmen. Am 20. Mai 2002 erhielt Osttimor seine Unabhängigkeit nach 24 Jahren indonesischer Besatzung zurück. Seither wird dieser Tag im nun demokratischen Land ausgelassen gefeiert.
Der Vorhof des Gefängnisses ist für das Fest vorbereitet. Zelte und eine Bühne sind aufgestellt und in den timoresischen Farben – rot, gelb, schwarz – geschmückt. Der Fahnenmast steht in der Mitte des Platzes. Auf der einen Seite, unter einem grossen Zelt, sind über zweihundert grüne Plastikstühle aufgereiht. Gegenüber hat es merklich weniger Stühle. Diese sind in weisse Tücher gehüllt und mit violetten Schleifen umwickelt. Zwei Reihen. Daneben stehen drei Sofas. Später werden wir auf diesen Platz nehmen.
Punkt neun Uhr beginnen die Festlichkeiten. Sogleich werden die Gefangenen in den Vorhof geführt. Anstelle von kurzen Hosen und Flipflops, wie sonst üblich, tragen sie heute lange Hosen und geschlossene Schuhe. Die Untersuchungshäftlinge haben hellblaue T-Shirts angezogen, die verurteilten Insassen schwarze und die jugendlichen Insassen rote. Bei allen steht auf der Rückseite in grossen, gelben Buchstaben das Wort «PRISIONEIRO» – Gefangener. Vereinzelt ist der Schriftzug jedoch schon abgebröckelt. Die Mehrheit der Gefangenen nimmt auf den grünen Plastikstühlen Platz. Vor ihnen positionieren sich drei Blöcke mit jeweils zehn Männern pro Reihe in drei Reihen.
Sie werden pro Block von einer Gefängniswärterin angeführt, die sie auffordert, stramm zu stehen. Bewusst hat sich der Gefängnisdirektor Julio Dias Ximenez dazu entschieden, dass die heutigen Feierlichkeiten von den Gefängniswärterinnen angeführt werden: «Bei der heutigen Zeremonie stellen wir die Geschlechtergerechtigkeit ins Zentrum und übergeben deshalb das Zepter unseren weiblichen Angestellten», erklärt er in seiner Ansprache. Anschliessend wird die Fahne gehisst. Dazu singen rund fünfzig Insassen auf der Bühne die Nationalhymne. Die strammstehenden Gefangenen wie auch die strammstehenden Wärter:innen harren eine Stunde in praller Sonne aus. Der Schweiss tropft.
Nach dem offiziellen Teil suchen sich alle einen Schattenplatz, während die Geburtstagsparty vorbereitet wird. Ein Tisch, mit roten, gelben und schwarzen Bändern dekoriert, wird vor der Bühne aufgestellt. Darauf stellen die Gefängniswärter:innen einen grossen mit Zuckerguss verzierten Kuchen und einige Champagnergläser. Vertreter:innen des Justizministeriums, der Familienangehörigen, der Gefängniswärter:innen sowie, Sabino, als Vertreter von HAK, lassen die Korken knallen. Der Champagner fliesst und spritzt alle um den Tisch stehenden Personen nass. Auf der Bühne spielt die Band das «Happy Birthday»-Lied. Das Publikum singt und klatscht in die Hände. Osttimor ist unabhängig – seit zweiundzwanzig Jahren! Ob in Gefangenschaft oder nicht, alle klatschen und singen. Sie sind stolz auf ihr demokratisches Land! Und genau mit dieser Euphorie tanzen die Gefangenen, ihre Familienangehörigen und die Gefängniswärter:innen wild durcheinander mehrere Stunden lang. Wenigstens an diesem feierlichen Tag scheinen die Herausforderungen im Gefängnisalltag in weiter Ferne zu sein.