Berichte unserer Menschenrechtsbeobachterinnen in Osttimor

Von Anfang April bis Ende Juli 2024 waren zwei erfahrene internationale Menschenrechtsbegleiterinnen, Angela Escher und Pia Caduff, für PWS in Osttimor im Einsatz. Sie hatten die herausfordernde Aufgabe, die Möglichkeiten für ein zukünftiges Engagement von PWS vor Ort weiter abzuklären. Zusammen mit dem HAK-Team haben die PWS-Einsatzleistenden die Menschenrechtssituation in den drei staatlichen Gefängnissen beobachtet und dokumentiert sowie HAK bei Empfehlungen an Regierungsstellen unterstützt.  Im Auftrag von PWS haben sie zudem eine Kontextanalyse im Menschenrechtsbereich durchgeführt, ein Akteur-Mapping erstellt und einen Schlussbericht mit Empfehlungen an PWS verfasst. PWS erhielt dadurch einen einzigartigen Einblick in die Menschenrechtssituation in Osttimor.

Nun sind Angela und Pia wieder zurück in der Schweiz und wir haben sie zu ihrer Motivation, den besonderen Herausforderungen und ihren Eindrücken vor Ort befragt. Das Interview mit den Beiden finden Sie hier.

Hintergrundinformationen zum Kontext in Osttimor

Die Demokratische Republik Timor-Leste, die nach dem Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft 1975 ein Viertel Jahrhundert gegen die indonesische Besatzungsmacht gekämpft hat, erlangte 2002 seine Unabhängigkeit[1]. Die indonesische Besatzungszeit war von schweren Menschenrechtsverbrechen, Angst und Folter geprägt. Ein Drittel der Bevölkerung (200’000 – 250’000 Menschen) starb an den Folgen des Krieges, an Hunger und Seuchen. Erst der Sturz des indonesischen Präsidenten Suharto 1998 machte den Weg frei für eine politische Lösung. 1999 stimmten 78,5% der Bevölkerung in einem Referendum für die Unabhängigkeit. Auf diesen Sieg hin übten pro-indonesische Milizen Massaker an der Zivilbevölkerung aus, die international Aufsehen erregten. Bei Eintritt der multinationalen Friedenstruppe 1999 war das Land zu 70% zerstört, die Hauptstadt Dili lag praktisch vollständig in Schutt und Asche, ein Grossteil der Bevölkerung war auf der Flucht, rund 100’000 Menschen flohen ins benachbarten Westtimor. Die Friedensmission der UNO hat den Aufbau des Staatsapparats übernommen und eine Interimsregierung gestellt, womit Osttimor bis zur Unabhängigkeit unter UN-Verwaltung stand.
Luftaufnahme des Santa-Cruz Friedhofs in Dili. Im November 1991 schoss das indonesische Militär nach einer Beerdigung ohne Vorwarnung auf friedliche Demonstranten. Über 270 Menschen starben, viele verschwanden spurlos. Das Massaker war ein Wendepunkt in der internationalen Wahrnehmung des Konflikts. Foto: Seraina, 2009

Seither sind die demokratischen Institutionen trotz politischer Spannungen intakt – der Ausbruch eines internen Konflikts machte die Rückkehr einer internationalen Friedenstruppe von 2006 bis 2012 nochmals nötig. Die Heraus­for­­derungen jedoch sind riesig, die wirtschaftliche Entwicklung seit 2017 wieder rückläufig und das Land steht vor kom­plexen und heiklen Entwicklungsproblemen: Armut, soziale Ungerechtigkeit, hohe Jugendarbeits­losig­keit, schlecht ausgebildete Menschen, wachsende Kluft zwischen Stadt und Land, wirtschaftliche Abhängigkeit vom Erdöl (fast ¾ der Staatseinnahmen kommen aus dem Erdölgeschäft), schlechte Verwaltung der öffentlichen Finanzen, eine kostspielige Staatsbürokratie, Anfälligkeit auf vermehrte Naturkatastrophen durch Klimawandel.

Gedenkfeier an die Gewalttaten, die pro-indonesische Milizen 1999 im Haus von Manuel Carrascalão, dem Sprecher des Nationalen Widerstandsrats der Osttimoresen, verübten. Er beherbergte auf dem Gelände seines Wohnhauses Flüchtlinge. Die Anzahl der dort getöteten Menschen ist unklar - 12 sind gesichert. Foto: PWS/Pia Caduff, Mai 2024

Menschenrechte werden auf vielfältige Weise verletzt: Die Aufarbeitung der Ver­brech­en gegen die Menschlichkeit während der indonesischen Besatzung von 1975-1999 wird kontrovers angegangen.  Osttimor hat eine der weltweit höchsten Rate an geschlechtsspezifischer Gewalt (Gender Based Violence), die Polizei wendet exzessiv Gewalt an, Gefängnisse sind überbelegt, der Zugang zur Justiz ist nicht immer gegeben, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Politik ist geprägt von Klientelismus, Macht­kämpfen und persönlichen Rivalitäten der «alten Garde», was die Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen daran hindert, die langfristigen Interessen des Landes und der Bevöl­ke­rung in den Vordergrund zu stellen. Für einen notwendigen politischen Wandel spielen zivilgesellschaftliche Organisationen eine entscheidende Rolle: Sie befähigen die Bevölkerung politisch teilzunehmen, übernehmen eine Kontrollfunktion und ziehen die politischen Parteien in die Verantwortung.

Seit Ende 2022 ist PWS in Kontakt mit der timoresischen Menschenrechtsorganisation HAK, die sich durch die internationale Präsenz und Begleitung durch Menschenrechts­beobachter:innen von PWS mehr Gewicht und Anerkennung ihrer Menschenrechtsarbeit verspricht. Das Pilot-Projekt dient der Klärung der Effektivität und Wirkung der internationalen PWS-Präsenz in Osttimor. Thematisch stehen, neben dem Fokus auf den Strafvollzug, insbesondere auch Landrechte, Zugang zu Wasser und genderbasierte Gewalt im Zentrum.

______
[1] Quellen: Blickwechsel: Guteriano Neves: Auf der Suche nach Wandel in der Politik von Timor-Leste, 2023. Menschenrechtsstudie von Missio: Monika Schlichter: Osttimor stellt sich seiner Vergangenheit, 2005. Stiftung Asienhaus. Empfehlungen OHCHR nach drittem Zyklus des UPR Timor-Leste, August 2022.

Die Berichte

Chega! Genug! Osttimor verarbeitet seine blutige Vergangenheit

Von Angela Escher, Timor-Leste. Nach den zahlreichen Gräueltaten und Menschenrechtsverbrechen, die während des osttimoresischen Bürgerkriegs von 1974-1975 und der anschliessenden indonesischen Besatzung von 1975-1999 geschehen sind, ist der Versöhnungsprozess in Osttimor nicht abgeschlossen. Angela beschreibt in ihrem Artikel, wie er von verschiedenen NGOs angetrieben wird, mit dem Ziel, den Boden für eine gerechte Zukunft zu schaffen. …Continue reading Chega! Genug! Osttimor verarbeitet seine blutige Vergangenheit

Osttimor regelt seinen Landbesitz

Von Angela Escher, Timor-Leste. Im September 2024 wird in Dili der Besuch des Papstes erwartet. Dafür richtet die Regierung die Stadt her: mehrere illegal erstellte Quartiere werden gewaltvoll geräumt, ohne Masterplan und ohne den Menschen Alternativen zu bieten. Wie der Artikel von Angela zeigt, ist timoresischer Landbesitz ein komplexes Thema….Continue reading Osttimor regelt seinen Landbesitz

Wer ist HAK?

Von Pia Caduff, Timor-Leste. Pia gibt uns in ihrem ersten Artikel einen Überblick über die Arbeit von HAK, der timoresischen Menschenrechtsorganisation, mit welcher PWS für das Pilot-Projekt in Timor-Leste aktuell zusammenarbeitet. …Continue reading Wer ist HAK?