Gewalt – der rote Faden im Leben der Frauen in Timor-Leste

Gewalt – der rote Faden im Leben der Frauen in Timor-Leste

Von Pia Caduff. Dili, Timor-Leste

«Eigentlich haben wir nur für etwa 60 Klientinnen Platz, aber zurzeit wohnen 64 Frauen und 16 Kinder hier,» sagt Madre Santina, die das Frauenhaus Uma Mahon in Salele, im Südwesten von Timor-Leste leitet. Die zierliche aber vor Energie sprühende Nonne ist schon seit 2005 hier und empfängt uns herzlich mit zwei Mitschwestern.  

Madre Santina und das Team des Frauenhauses Uma Mahon empfangen uns in Salele, einem Dorf im Distrikt Cova Lima im Süden von Timor-Leste. Foto: PWS/Pia Caduff, 1. Mai 2024

Uma Mahon nimmt Frauen auf, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind. Darunter sind Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben, aber auch viele meist Minderjährige Opfer sexueller Gewalt und Inzest. Einige sind schwanger und gebären ihre Kinder im Frauenhaus in Salele.

Gewalt gegen Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der patriarchalischen Gesellschaft von Timor-Leste: Die portugiesische Kolonialzeit hat vorbestehende patriarchalische Strukturen gefestigt und sowohl die japanische Besatzung im Zweiten Weltkrieg wie die indonesische Besatzung von 1974-1999 haben sich unter anderem durch konfliktbezogene, meist sexuelle Gewalt an den timoresischen Frauen einen traurigen Namen gemacht.

Timoresische Frauen wurden von der japanischen Armee während der Besatzung von 1942 bis 1945 zur Prostitution gezwungen. Die genaue Anzahl dieser Trostfrauen ist nicht bekannt, denn nur 12 Timoresinnen haben sich als solche zu erkennen gegeben und über ihr Leid gesprochen. Davon ist nur noch eine Frau am Leben und heute bereits über 90 Jahre alt. Verschiedene Organisationen haben sich dem Thema angenommen, darunter auch HAK. Neben der moralischen und materiellen Unterstützung der Frauen setzt sich HAK in Zusammenarbeit mit der japanischen NGO Japanese Coalition for Timor-Leste dafür ein, dass ihre Geschichte und die ihrer Leidgenossinnen in die timoresischen Geschichtsbücher Einzug finden. Entschuldigung und Entschädigung seitens der japanischen Regierung sind bis heute ausgeblieben.

Die Nonnen des Frauenhauses Uma Mahon in Salele beantworten geduldig unsere Fragen – Foto: PWS/Pia Caduff, 1. Mai 2024

«Die Frauen bleiben bei uns, bis das Gerichtsverfahren gegen ihre Peiniger abgeschlossen ist und sie stark genug sind, um wieder in ihr Dorf zurückzukehren» sagt Madre Santina vom Frauenhaus Uma Mahon. «Dazu gehört häufig auch ein Versöhnungsverfahren, denn unverheiratete Frauen haben keine andere Wahl, als zurück in ihre ursprüngliche Familie zu gehen. Deshalb arbeiten wir auch mit den Tätern.»

Die Aufenthaltsdauer in Uma Mahon beträgt ein bis zwei Jahre und in dieser Zeit erhalten die Frauen nicht nur viel Unterstützung, sondern auch Ausbildung: es werden schulische und praktische Weiterbildung angeboten, so dass sie später eine Möglichkeit haben, selbst ein kleines Einkommen zu generieren.

Auch während der 24 Jahre dauernden indonesischen Besatzung war Zwangsprostitution weit verbreitet. Die betroffenen Frauen und die Kinder, die dabei gezeugt wurden, leiden noch heute unter dem Trauma der erlittenen Gewalt und der daraus folgenden Stigmatisierung. Manuela Pereira, Direktorin von AcBIT, einer NGO, die sich der Aufarbeitung dieser Verbrechen und der Unterstützung der betroffenen Frauen verschrieben hat, erzählt uns, dass die Kinder dieser Frauen jeweils keine Geburtsurkunde erhielten, dass die Frauen geächtet wurden und zum Teil immer noch werden, obwohl durch ihr Opfer manch einer Dorfgemeinschaft Schlimmes erspart blieb.

Noch heute wird Gewalt gegen Frauen häufig auch von Frauen selbst als normal und als legitim angesehen: gemäss der Nabilan Studie der Asia Foundation von 2015[1] waren damals 80% der befragten Frauen der Meinung, dass ein Ehemann seine Frau schlagen darf, und dass sie intime Beziehungen dem Ehemann nur aus gesundheitlichen Gründen verweigern darf.

Kampagne gegen Gewalt gegen Frauen in den Strassen von Dili. Foto: PWS/Pia Caduff, 19. Juni 2024

Sexuelle Belästigung und Gewalt ist in Timor-Leste zwar eine Straftat – rund 50% der Gefängnisinsassen sind wegen Sexualverbrechen verurteilt – doch es wird den Frauen nicht einfach gemacht, Anzeige zu erstatten. Häufig werden sie auf dem Polizeiposten abgewimmelt oder unter Druck gesetzt, auf eine Anzeige zu verzichten, Aufklärungen werden verschlampt und das Justizsystem ist völlig überlastet, so dass in vielen Fällen, die Familien der Frauen sich an die Instanzen der traditionellen, informalen Justiz wenden, die die Frauen stark benachteiligen.

«Wir ermutigen die Frauen die Täter anzuzeigen und unterstützen sie bis zum Abschluss des Verfahrens. Sind sie schwanger, so gebären sie ihr Kind im benachbarten Ambulatorium und behalten es bei sich in Uma Mahon. Zurück ins Dorf gehen sie erst, wenn sie dazu bereit sind», erklärt Madre Santina.

Die 44 (!) Organisationen, die sich um Frauenanliegen kümmern, haben sich zu einem Verband, Rede Feto Timor-Leste, zusammengeschlossen. Einige sind nur in einzelnen Dörfern tätig, andere auf nationaler Ebene. Zu den letzteren gehört FOKUPERS[2], eine Frauenrechtsorganisation, die 1997 als «Frauenabteilung « von HAK gegründet wurde und inzwischen selbstständig und als Verein organisiert ist. Zu Beginn kümmerte sich die Organisation um Opfer der indonesischen Besatzung, um weibliche Gefangene und um die Ehefrauen der Gefangenen. Heute liegt ihr Fokus auf häuslicher und sexueller Gewalt, mit drei Ausrichtungen: Öffentlichkeitsarbeit, Unterstützung der Opfer (victim empowerment) und frühkindliche Erziehung. Der Verein betreibt Kinderhorte, um alleinerziehende Frauen zu entlasten, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen und vier Frauenhäuser, zwei in Dili und zwei ausserhalb, eines davon im Auftrag der Regierung.

Bemerkenswert ist, dass Timor-Leste trotz seiner ausgesprochen patriarchalischen Gesellschaft und einer sehr hohen Rate geschlechtsspezifischer Gewalt gleichzeitig auch einen in Südostasien aussergewöhnlich hohen Anteil Frauen im Parlament vorweisen kann: Dank einem Quotensystem sind zurzeit 38.4% der Parlamentarier*innen Frauen (was ziemlich genau dem Frauenanteil im Schweizer Nationalrat entspricht).

Der ausgezeichnete Kuchen, der uns mit Tee und Kaffee angeboten wird, haben die Frauen im Rahmen ihrer Weiterbildung im Uma Mahon gebacken und die Schwestern ermuntern uns, das, was übrigbleibt mitzunehmen. Ich frage Madre Santina, ob wir den Kuchen nicht für die Kinder und ihre Mütter lassen sollten. Sie lächelt und meint: «Natürlich essen sie gerne Kuchen, aber für ihr Selbstwertgefühl ist es viel wichtiger zu sehen, dass Sie ihren Kuchen so sehr gemocht haben, dass Sie die Resten mitnehmen».

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[1] https://asiafoundation.org/publication/intimate-partner-violence-against-women-in-timor-leste/

[2] https://fokupers.org

Gruppenfoto zum Abschied: Madre Santina in der Mitte zwischen den Einsatzleistenden Pia und Angela und links und rechts die zwei Schwestern von Uma Mahon und die Mitarbeitenden des HAK-Teams. Foto: PWS/Pia Caduff, Salele 1. Mai 2024