Der Preis der Freiheit

Der Preis der Freiheit

Von Elodie Sierro

Vierter Text der Reihe «Augenzeug*innenberichte in der Retrospektive» zu 20 Jahren PWS
Elodie Sierro leistete 2018 einen sechsmonatigen Einsatz als Menschenrechtsbegleiterin für ACOGUATE in Guatemala, der damaligen Partnerorganisation von PWS im Land.  Elodie studierte Politologie und Public Management und arbeitet heute als Leiterin Partnerschaften und institutionelle Beziehungen bei Handicap International Schweiz.

Der Kampf für das Recht auf Land in Guatemala

Während meines Einsatzes als Menschenrechtsbegleiterin bei PWS/ACOGUATE in Guatemala hatte ich die Gelegenheit, eine indigene Gemeinschaft bei ihrem Landrechtsstreit zu begleiten.
Im Grenzgebiet zu Honduras tobt ein heftiger und blutiger Kampf zwischen einer indigenen Maya-Gemeinschaft und einer lokalen Landbesitzerfamilie. Einerseits wird dieser Kampf geführt, um die Ernährungssicherheit in einer Region zu gewährleisten, welche einen der höchsten Mangelernährungs-Indizes in ganz Guatemala aufweist. Andererseits ist die Rückgewinnung von Land für indigene Völker von zentraler Bedeutung, da sie den indigenen Räten eine gewisse politische Autonomie erlaubt. Um Landrechte zu erhalten, muss eine Gemeinschaft aber zunächst als indigenes Volk mit eigener Rechtspersönlichkeit anerkannt werden. Die Maja-Gemeinschaft fordert daher sowohl das Recht auf angestammtes Land[1] als auch das Recht auf Selbstbestimmung als indigenes Volk.
Aufgaben im Einsatz in Guatemala:
Als Mitglied des internationalen Konsortiums ACOGUATE: Schutzbegleitung von Menschenrechtsverteidiger*innen sowie von Zeug*innen in Menschenrechtsprozessen und von Gemeinschaften, die sich für ihr Land und den Schutz der natürlichen Ressourcen einsetzen.
Besuch einer Gemeinschaft in der Region Orient. Foto: PWS/Acoguate 2017

Die lokalen Landbesitzer sehen diesen Landrechtskampf jedoch nicht gerne. Sie versuchen ihn deshalb zu verhindern und zögern nicht mit der Anwendung von Gewalt, um ihre Ziele zu erreichen. Diese Gewalt äussert sich zum einen in physischer Gewalt gegenüber einzelnen Personen, zum anderen in der Kriminalisierung des Landrechtskampfes der indigenen Gemeinschaft: Mehrere Mitglieder der Maya-Gemeinschaft wurden in Untersuchungshaft genommen und warteten monatelang auf ihren Prozess.

Was mich am meisten beeindruckte, war die Stärke und der Mut der Gemeinschaft: Einerseits der Gefangenen, denen die Freiheit für ein Verbrechen entzogen wurde, das sie nicht begangen hatten, andererseits auch der anderen Gemeinschaftsmitglieder, die weiter für ihre Rechte kämpften (und immer noch dafür kämpfen), obwohl sie ständig bedroht wurden. Und tatsächlich: Die Regierung droht, greift an, foltert und tötet! Dies schien mir undenkbar, als ich in Guatemala ankam, aber ich erkannte schnell, dass dies die harte Realität war.

Prozess gegen politische Gefangene in Zacapa. Foto: PWS/Acoguate 2017

Meine Rolle als internationale Menschenrechtsbeobachterin

In diesem Kontext ist die Arbeit von PWS/ACOGUATE wertvoll. Die schützende Präsenz von Menschenrechtsbeobachter*innen und -begleiter*innen ermöglicht es den Guatemalteken, ihre Arbeit als Menschenrechtsverteidiger*innen fortzusetzen. Durch unsere Anwesenheit schaffen wir eine internationale Visibilität. Die Welt erfährt, was in Guatemala passiert. Dies hilft physische und strukturelle Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger*innen zu begrenzen und hält Aggressoren davon ab, Gewalt anzuwenden.    

Als Menschenrechtsbeobachterin traf ich Mitglieder dieser Maya-Gemeinschaft bei Begleit­ein­sätzen in der Region, insbesondere bei Gefängnisbesuchen und bei den Gerichtsprozessen. Meine Aufgabe war es, die Gemeinschaft und insbesondere die Gefangenen und ihre Angehörigen zu begleiten. Neben unserer physischen Präsenz, konnten wir den Stimmen der Gemeinschaft bei den lokalen Politiker*innen, internationalen Organisationen und Mitgliedern des diplomatischen Corps Gehör verschaffen. Ziel war es, die Situation der Menschen sichtbar zu machen und Veränderungen zu bewirken.

Trotzdem fühlte ich mich angesichts von so viel Ungerechtigkeit oft hilflos und hatte Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass die Gemeinschaft durch meine blosse Anwesenheit unterstützt sein könnte . Lächelnd und zielstrebig verloren die begleiteten Menschen ihr Ziel nie aus den Augen: die Einforderung von Gerechtigkeit und ihrer Rechte. Frauen und Männer, die ihr Leben riskieren, um ihr Land zu verteidigen.

Diese Menschen kämpfen seit Jahren und ihr Kampf wird leider wohl noch viele Jahre andauern. Die Präsenz von Menschenrechtsbeobachter*innen gibt ihnen Kraft, sie fühlen sich begleitet und haben eine Schulter, auf die sie sich stützen können.

Ich freue mich, dass ich einen kleinen Beitrag zur Unterstützung dieser Maya-Gemeinschaft leisten durfte. Ihre Stärke und Entschlossenheit werden mir immer in Erinnerung bleiben. Die in Guatemala gemachten Erfahrungen inspirieren mich täglich und geben mir die Energie, um für eine bessere Welt zu kämpfen.

Versammlung von COMUNDICH in Camotán. Foto: Laura Kleiner 2017

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[1] In Zentralamerika ist der Ausdruck „Madre Tierra“ Teil der Maya-Kosmologie, eine Weltanschauung, in welcher Respekt und Schutz der Mutter Erde im Mittelpunkt steht. Es ist der Ort, an dem das Leben aller Lebewesen seinen Ursprung hat. Dieses Wissen wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die Verbindung zur Natur ist stark.