Die Enteignung von Palästinenser*innen
Von Jenny Bolliger
Dritter Text der Reihe «Augenzeug*innenberichte in der Retrospektive» zu 20 Jahren PWS
Jenny Bolliger war 2006/2007 und 2007/2008 für je drei Monate als Menschenrechtsbeobachterin in Palästina/Israel im Einsatz. 2008 bis 2012 war sie die Projektkoordinatorin für Palästina/Israel (EAPPI) bei Peace Watch Switzerland. Jenny hat einen Bachelor in Soziokulturellen Animation und einen Master in Peace Studies. Heute arbeitet sie mit geflüchteten Menschen.
Ich erinnere mich oft an meine Zeit als Menschenrechtsbeobachterin. Seither bin ich oft wiedergekommen, als Reiseleiterin, zu Besuch, als Schweizer Koordinatorin des EAPPI-Programms. Doch nie mehr habe ich Yanoun besucht, das kleine Dorf in welchem ich im Winter 2006 / 2007 drei Monate verbracht habe. Es sind schöne Erinnerungen an angehnehme Nachmittage mit den Bewohner*innen beim Mandeln ernten, beim Brot backen, spielen mit den Kindern. Es sind Erinnerungen an warme Begegnungen, lachende Gesichter und heitere Momente, wenn wir versucht haben einander etwas zu erzählen.
Dabei würde es mich wundernehmen, wie es Yassir dem Busfahrer ergeht, ob Ahmed weiterhin sein Land pflügen kann, ob Layla und ihre Schwestern sich immer noch so viele Geschichten zu erzählen wissen.
Aufgaben im Einsatz in Palästina/ISrael:
Als Teil des Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI) vom Ökumenischen Rat der Kirchen: Schutzbegleitung von Bäuerinnen*Bauern sowie von Schulkindern, Checkpoint-Monitoring, Beobachten von alltäglichen Menschenrechtsverletzungen, Zusammenarbeit und Austausch mit lokalen Friedensorganisationen; Dokumentation, Berichterstattung und SensibilisierungsarbeitOb die Menschen in Yanoun ihre Lebensfreude trotz der Gewalt der Siedler*innen behalten haben, sich als Gemeinschaft stützen und ihre Kinder sich eine erfüllende Zukunft aufbauen konnten. Ich durfte damals am gewöhnlichen Alltag teilnehmen, unsere Präsenz war eine willkommene Abwechslung und das Dorf fühlte sich durch uns geschützt und mit der Welt verbunden. Ihre Geschichten sollten wir weitertragen, und so auf die Menschen hinter den grossen Reportagen aufmerksam machen.
Die anhaltende Bedrohung: die Geschichte von Hadla
Die Verbundenheit mit den genannten Personen ist noch sehr stark, und glücklicherweise erinnere ich mich als Erstes an die schönen Momente. Meine damals verfassten Texte erzählen aber auch von der anhaltenden Bedrohung:
Verzweifelt empfängt uns Hadla, sie müsste ihr Zuhause eigentlich schon lange verlassen haben. Zusammen mit ihren Söhnen und deren Familien lebt sie in der Höhle, in der sie geboren wurde. Soldaten und israelische Siedler*innen kommen immer wieder vorbei und machen ihr Angst. Sie ist froh uns zu sehen und gemeinsam versuchen wir einen Anwalt für ihren Fall zu gewinnen. Das Land, das sie bewirten, gehört einer palästinensischen Grossfamilie, der sie Miete bezahlt. Die schriftliche Anweisung, die Hadla erhalten hat, besagt auf Hebräisch, dass die Armee das Gebiet für Übungszwecke beschlagnahmen möchte.
Wie die Geschichte von Hadla, weitergegangen ist, ob die Anwältin sich erfolgreich für die Familie einsetzten konnte, weiss ich nicht. In den drei Monaten sind wir oft wiedergekommen, haben die Familie besucht und haben sie so bestärkt, weiterzumachen. Diesen und andere Fälle von Landentnahme haben wir dokumentiert und dem lokalen UN OCHA Büro und dem IKRK weitergeleitet, damit sie sich ein genaueres Bild von der Lage vor Ort verschaffen können. Auch haben wir jeweils Menschenrechtsorganisationen in Israel, wie z.B. B’Tselem oder Adalah kontaktiert, die helfen, die Kosten von Gerichtsfällen zu tragen.
Hadla ist kein Einzelfall: Verschiedene Methoden der Landentnahme
Es gibt tausende Schicksale wie jenes von Hadla und nebst der Einschüchterung und den Übergriffen durch Siedler*innen versucht die israelische Regierung mit verschiedensten Mitteln Land zu übernehmen und in sein Staatsgebiet einzugliedern. Beispielsweise wird Land zu Militärzwecken konfisziert wie oben erwähnt. Aber auch zum angeblichen Schutz der Natur, zum Bau der Mauer oder von Strassen, die die Palästinenser*innen nicht benutzen dürfen, wird palästinensisches Land enteignet. Zudem wurde ein altes, aus der osmanischen Zeit stammendes Gesetz wieder aktiviert welches besagt, dass unbewirtschaftetes Land nach drei Jahren automatisch israelisches Staatseigentum wird. Man lasse dazu die Bevölkerung ihr Land nicht mehr bebauen und bestellen – et voilà. Dies geschieht nicht nur auf dem Land, sondern kann auch ganze Strassenzeilen und Quartiere in Städten betreffen. Das prominenteste und aktuellste Beispiel für die Enteignung von Palästinenser*innen ist Sheikh Jarrah in Ostjerusalem.[1]
Es ist gut zu wissen, dass nach mir weitere Menschenrechtsbeobachter*innen vor Ort waren und die Menschen in ihrem Kampf um ihr Land unterstützen. Mich hat die Zeit in Yanoun sehr geprägt und mich politischer gemacht. Die wundervollen Begegnungen vor Ort motivieren mich, engagiert zu bleiben und mich für Menschenrechte stark zu machen. So bin ich weiterhin aktiv bei der Palästina Solidarität Basel.
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[1] https://www.medico.de/blog/mehr-als-ein-paar-haeuser-18183.
Siehe dazu auch das PWS-Infoblatt von Juli 2021.